Christlich-islamischer Dialog
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Gedanken zu Islam und Fußball

Ahmad Milad Karimi: Maradona und das göttliche Spiel. Warum das Wesentliche unverfügbar bleibt, Patmos-Verlag. Ostfildern 2023, ISBN 978-3-8436-1412-2, 128 Seiten, € 15, 00

Rezensentin: Doris Schulz

Ein schmales Büchlein mit knapp hundert Seiten liegt vor mir. Es ist die jüngste Arbeit des muslimischen Religionsphilosophen und Islamwissenschaftler Ahmad Milad Karimi. Er lehrt Islamische Philosophie am Zentrum für Islamische Theologie in Münster und ist dort stellvertretender Leiter des Zentrums.

In diesem Buch nimmt er die Sehnsucht der Menschen nach Sicherheit auf und stellt sie den radikalen Erfahrungen gegenüber, die das Leben in Zeiten von Kriegen Tod und Leiden und Zerstörung mit sich bringt. Es geht um Ängste, Schmerzen, Krankheiten und Verlust von Heimat. Es geht darum, dass letztlich das Leben für jeden Menschen unverfügbar ist. Aber Karimi sieht auch die Augenblicke des Glücks, der Freude, die Augenblicke des Segens, die zu „Gottes Momenten“ werden können. Er nutzt für seine gedanklichen Wanderungen eigene biografische Erinnerungen und Anlässe, die für uns Leserinnen und Leser noch einmal spannend werden mit dem Blick auf das Eigene. 

Im Vorwort spricht er von der Weisheit und der Fähigkeit, zwischen den Dingen des Lebens, die uns umgeben und über die wir verfügen, den Sinn, der in ihnen liegen könnte, zu erkennen oder auch nicht. Im Leben zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem unterscheiden zu können, das bezeichnet Ahmad Milad Karimi als Weisheit. Um welche Weisheit geht es? Bereits in seinem Vorwort legt er Spuren aus und fragt: Was haben wir im Griff? Was ist uns verfügbar?

Das Inhaltsverzeichnis weist ohne Vorwort elf Kapitel aus, die wenige Seiten lang sind und Titel tragen, die Erfahrungen des Lebens annoncieren.

Im ersten wird von Diego Maradona erzählt, der als genialer argentinischer Fußballspieler die Gedanken des Kindes Ahmad Milad Karimi in Afghanistan füllt. Im Sommer 1986 ist er sieben Jahre alt und verbringt seine ganze Freizeit mit dem Fußball. Ahmad Milad eifert Maradona im Kinderspiel nach. Wegen seines schwarzen Wuschelkopfes wird er der „kleine Maradona“ genannt. So oft er kann, schaut er diesem Spieler am Bildschirm zu. Und der erwachsene Ahmad Milad sagt heute: „Ich spürte, wie er mein Herz eroberte.“

Maradona gewann 1986 für seine argentinische Mannschaft die Weltmeisterschaft. Für seine Fans wurde er als Heiliger verehrt. Das vertiefte sich in seiner späteren Zeit, als er im italienischen Fußballverein Societa Sportiva Caleio Napoli spielte. Landläufig nannte man ihn die „Hand Gottes“. -

Es scheint, als habe Ahmad Milad eine schöne Kindheit gehabt. Aber - als Kind erlebt Ahmad Milad auch Momente der Angst im dunklen Keller, wenn er den Ball fest in seinem Arm hält und die Seufzer der Eltern hört. Und er spürt die Stimmung der drückenden Last des Krieges, dieser immer gegenwärtigen Gefahr. Die Angst erfüllt ihn, selbst getroffen zu werden. Er sieht sie auch im Gesicht Maradonas. Maradona mit dem Ball am Fuß verkörpert für ihn, das Kind, die „Hand Gottes“. In diesen Augenblicken, glaubt er, dass Maradona dies alles sehen könne, auch seine, Ahmads Angst. So wird der Fußball zum „Spiel der Hoffnung“ für den Jungen, und er sucht inmitten des Krieges nach dieser „Hand“. Er lernt auch, wie zerbrechlich das menschliche Leben ist und die Hoffnung schwach bleibt. Immer wieder sucht Ahmad Milad die Hand Gottes und findet sie nicht. Er hört die Mütter um ihre Kinder weinen und nach dem Warum fragen. Auch in ihm wächst die Frage danach „warum es überhaupt diese Welt gibt, in der es möglich ist, dass Kinder so früh sterben müssen?“ Und als Erwachsener bilanziert er: „Der Krieg nimmt die Kindheit hinweg. Nicht plötzlich vom Krieg verweht, sondern im Übergang von jetzt und jetzt.“ Dennoch beginnt etwas Neues in dem Heranwachsenden, die „Haltung, mit Gott zu hadern. Ihn nicht nicht sein zu lassen, sondern durch seine Hand verstehen zu wollen, was diese Welt […] dieses Leben soll.“

Ahmad Milad Karimi sieht als Erwachsener den im Jahr 2021 entstandenen Film „The Hand of God“ des Regisseurs Paolo Sorrentino mit dessen filmischer Interpretation, dass „man Maradona nur mit unserer Beziehung zum Göttlichen begreifen“ könne. „Die Hand Gottes“ symbolisiere „die göttliche Wirkmächtigkeit, Gerichtsbarkeit oder den göttlichen Schutz“. Und der Philosoph Ahmad Milad Karimi schlussfolgert: „Diese Bezeichnungen weisen auf die Unverfügbarkeit des göttlichen Handelns für den Menschen hin.“

In den folgenden Kapiteln entfaltet er den Begriff der „Unverfügbarkeit“ mit weiteren Bezügen zu eigenen Lebenserfahrungen, die, obwohl sie von persönlichen Empfindungen sprechen, gleichzeitig allgemein gültig sind. Und immer wieder taucht Maradona auf, mal kurz oder auch ausführlicher. Karimi stellt jedem der Kapitel einen poetischen Gedanken voraus und gibt ihnen diese Namen:

„Der Seufzer / Die Geburt / Die Gegenwart der Taglili / Lob des Glaubens / Du sollst deinen Sohn Diego nennen! / Das Unverfügbare oder Mit Gott atmen / Die schwache Hoffnung / Der Kuss / Der Tanz / Eine Liebeserklärung und Offenes Ende“.  

Selbstverständlich erinnert sich kein Mensch an seine eigene Geburt. Nur aus Erzählungen weiß man um die Umstände der Geburt, die insbesondere die Mutter mit Schmerzen erfüllt und erst danach mit Freude. Er weiß um die Reaktionen des Vaters, den Umständen, der Angst, der Kälte und den Hoffnungen. Der große Anfang bleibt uns selbst unverfügbar, schreibt er, auch davon, dass bereits die griechischen Philosophen über die Geburt als einer existentiellen Frage nachdachten und dass diese Frage die Menschheit bis heute begleitet. Schon junge Kinder fragen beim Betrachten der Fotos, auf denen die Großeltern junge Leute und die Eltern noch Kinder waren, „Und wo war ich da?“ Und Staunen befällt sie, dass es Zeiten gab, in denen es sie noch nicht gab. Und Karimi erzählt dazu: Kierkegaard frage gar: „Wie bin ich in die Welt hineingekommen; warum bin ich nicht gefragt worden?“ Der Mensch als selbstbestimmtes Wesen entwickele sich erst viel später, nach und nach. Und, so sagt es Karimi: „Der Raum, den die Geburt eröffnet, ist der Erinnerungsraum einer Beziehung.“ Wir als Leserinnen und Leser denken gleich an die Ich-Du Beziehung des Kindes mit der Mutter und der Mutter zum Kind. Aber Karimi zitiert einen Vers im Koran, der ihn besonders berührt: „Vor der Geburt stehen die Menschen vor Gott. Und der Ewige fragt: Bin ich nicht euer Herr? Und die Menschen bezeugen es.“ (7:172-173) Hier wird der Mensch zeitlos als ein Du Gottes schon im Leib der Mutter angenommen. Die Mutterliebe wird damit zur Bedingung überhaupt, ein Leben mit einem anderen Du zu leben, aber auch mit dem Glauben verflechten zu können. „Ein Suchprozess beginnt,“ so Karimi.

Er benennt diesen Suchprozess als „Lebenspoesie“. Aber er zitiert auch seinen Propheten und legt dessen Aussage den Menschen ans Herz: „Stirb, bevor du stirbst.“ Karimi deutet ihn und sagt: „Erwache, nachdem du erwacht bist! Menschwerden und Menschsein bedeutet den Vollzug der Geburt nach der Geburt, den nicht kalkulierbaren Anfang eines neuen Lebens eines neuen Menschen.“

Die Geburt seines Sohnes wird für Ahmad Milad Karimi zu einer tiefgehenden Erfahrung seines Lebens. Er erlebt Unbeholfenheit in der Erwartung des Neuen, des Unverfügbaren. Er schaut nicht mehr auf sich, sondern auf das neue Leben. Er kann von sich selbst absehen, sieht den Sohn „und alles war er, alle Hoffnung, aller Segen. […] Meine Brust öffnete sich und sie blieb offen, verletzlich, verwundbar, aber voller Wärme und pulsierend für mehr Leben.“  

In den weiteren Kapiteln umkreist Karimi die unverfügbaren Seiten im Leben der Menschen. „Wir verfügen nicht über unsere Herkunft, nicht über unser Geschlecht, nicht über unsere sexuelle Orientierung“, und er stellt die Verfügbarkeit  über unseren Willen und unsere Ziele, über unsere Liebe, unseren Glauben, unser Dasein, unser Leben, unseren Tod in Frage und zeigt die Abhängigkeiten von Krankheit, Schmerzen, körperlicher Vergänglichkeit. „Das Leben mit einem offenen Ende ist unbeschützt, unversichert. […] Es führt zur Einsicht in die Unverfügbarkeit.“ Und Karimi endet mit einem Wort Maradonas auf die Frage, was er zu sich selbst auf dem Friedhof sagen würde. Dieser sagte: „Danke an den Ball. Ja, ich würde auf den Grabstein schreiben: Danke an den Ball.“

Und Karimi gibt die Antwort auf die Frage nach der Weisheit, indem er sagt: „Wenn sich ein Leben vom Ende her in Dankbarkeit ausdrücken lässt, dürfte es seine Poesie entdeckt haben. Jede Tätigkeit, jedes Spiel kann als göttlich aufscheinen, wenn man von ihm sagen kann, was Maradona über Fußball sagen konnte: „Es ist, als würde ich den Himmel mit meinen Händen berühren.“ Ich wünsche jeder Leserin und jedem Leser Neugierde, um die Aussagen dieses sensiblen, klugen, muslimischen Philosophen in den weiteren Kapiteln zu entdecken, auf was es im Leben ankommt und was zur Weisheit führt. Darüber hinaus wünsche ich allen auch den besonderen Genuss von Ahmad Milad Karimis poetischer Sprache.

 

Die Rezensentin ist als verantwortliche Akteurin seit 1993 bis heute in Solingen im Christlich-Islamischen Dialog tätig und Mitglied im Vorstand der CIG.