Christlich-islamischer Dialog
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Theologische Entdeckungsreise

Ralf K. Wüstenberg: Islam ist Hingabe. Eine Entdeckungsreise in das Innere einer Religion, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2016, ISBN 978-3-579-08234-9, 270 Seiten, € 19,99

Rezensent: Ralf Lange-Sonntag

Anlass des vorliegenden Werkes sind zwei sich widersprechende Erfahrungen des Autors: Einerseits ist das Islambild in Deutschland und in West-Europa eindeutig negativ. Gängige Assoziationen sind Terror, der Angst auslöst, und Rückständigkeit, die Ablehnung provoziert. Demgegenüber erlebt Wüstenberg, Professor für Evangelische Theologie mit dem Schwerpunkt systematische und historische Theologie an der Europa-Universität in Flensburg, während eines Forschungsaufenthalts in Cambridge, wie verbindlich, modern und human muslimische Studierende, Forschende und Lehrende am dortigen Muslim College ihren Glauben leben. Dieser Widerspruch regt den Flensburger Professor dazu an, sich aus christlicher Perspektive mit „Islam als Ausdruck von gelebtem Glauben“ (S. 12) zu beschäftigen. Dabei möchte er nicht einfach Sachinformationen vermitteln, sondern „vielmehr scheint (ihm) eine Auseinandersetzung geboten, die sich aus der Perspektive christlichen Glaubens und spirituell-religiösen Fragens für die Inhalte der Religion Islam interessiert“ (S.11). Diese vertiefte und existenziell verankerte Auseinandersetzung mit dem Islam vermag – so Wüstenberg – nicht nur die gängigen Vorurteile abzubauen, sie kann auch zu einer Bereicherung der christlichen Glaubenspraxis führen. Wüstenberg sieht sich hier zu Recht als Vertreter einer komparativen Theologie, die konkrete Vergleiche einzelner Aspekte von Religionen für die Entwicklung der jeweils eigenen Religion nutzen möchte.
Wüstenberg interessiert sich vor allem für den Glauben der Muslime samt relevanter Vorstellungen wie z. B. Barmherzigkeit, Vergebung und Vorsehung und kündigt entsprechend in der Einleitung an, die mit dem Glauben verbundene Lebenspraxis zu untersuchen sowie die aufgezählten Theologumena im Gespräch mit gläubigen Muslimen zu erörtern. Leider bleibt der norddeutsche Theologe weit hinter diesem Anspruch zurück. Ebenso lässt sich das vorliegende Werk kaum als „Entdeckungsreise in das Innere einer Religion“ verstehen, wie der Untertitel vollmundig ankündigt – es sei denn, man würde die Interpretation theologischer Standardwerke als eben jenes „Innere einer Religion“ verstehen. Was Wüstenberg vielmehr bietet, ist der detaillierte Vergleich des Glaubensverständnisses des außerordentlich anerkannten muslimischen Theologen al-Ghazali (1058-1111) mit der Theologie des Schweizer Reformatoren Calvin. Mehr nicht! Andererseits aber auch nicht weniger! Denn die Auseinandersetzung mit den beiden Theologen bringt doch durchaus Interessantes ans Licht.
Methodisch bemüht sich der Autor zunächst um eine Darstellung der Ansichten al-Ghazalis in vier Kapiteln anhand der Stichworte „Sehnsucht nach Gott“, „Gottvertrauen“, „Vergebung“ und „göttliche Vorsehung“. Jedes Kapitel endet mit Denkanstößen für den christlichen Glauben, die die Beschäftigung mit dem Islam für den christlichen Glauben fruchtbar machen möchte. Während in diesem ersten Abschnitt der Abhandlung die Vorstellungen al-Ghazalis nur partiell christlichen Theologen wie Bonhoeffer gegenübergestellt werden, erfolgt im zweiten Durchgang ein detaillierter Vergleich mit der Theologie Calvins. Vergleichspunkte sind dabei „natürliche Gotteserkenntnis“, „Wegleitung im Glauben“, „Prädestination“ und „Hingabe als Glaubenshaltung“. Auch hier schließt jedes Kapitel mit Fragen und Anmerkungen, die wegen des Vergleichscharakters als „komparative Denkanstöße“ bezeichnet werden. Dieses methodische Vorgehen ist im Kern vorbildlich für den Ansatz einer komparativen Theologie; Grenzen zeigen sich jedoch in der Durchführung: Es kommt zu einigen Redundanzen; die Denkanstöße bleiben bisweilen sehr vage und oberflächlich. Zudem unterbleibt bei den meisten Aspekten eine kritische Auseinandersetzung mit den beiden Theologen, als ob die Theologiegeschichte mit der Reformation bzw. mit al-Ghazali stehengeblieben wäre.
Deutlich wird andererseits dank der Ausführungen des Flensburger Theologen, dass weder die Glaubensideale noch die Gottesvorstellungen der beiden Religionen diametral gegenüberstehen. Auch der Islam geht von einem Gott aus, dessen Hauptmerkmal die Barmherzigkeit ist, während die typisch islamischen Vorstellungen als Hingabe und Unterwerfung unter Gottes Willen als Ausdruck gelebten Glaubens wortwörtlich auch bei Calvin verwendet werden. Wüstenberg verneint jedoch nicht die Unterschiede zwischen den Religionen, die sich u.a. in der unterschiedlichen Bewertung Jesu zeigen, der nach evangelischem Verständnis als „Hingabe Gottes an die Menschen“ (S.207) geglaubt wird.
Hinsichtlich des Begriffs „Scharia“ gelingt der Vergleich weniger gut, da sich Wüstenberg verstärkt auf eine Deutung der Scharia als göttliche Beurteilung menschlicher Handlungen im Sinne eines Gerichts stützt, eine Deutung, die er dem entsprechenden Artikel in der Encyclopaedia of Islam entnimmt. Dieses Verständnis wird von der Mehrheit der muslimischen Gelehrten jedoch nicht geteilt. Ohnehin ist Wüstenbergs Argumentation bisweilen umständlich, wenig präzise und auch widersprüchlich. So setzt er Gedenken mit Erinnern (S. 60ff.) oder memento mori mit Gedanken an das Jenseits (S. 192ff.) gleich. Zweifel an Gottes Barmherzigkeit wird zu „Verzweiflung an Gottes Barmherzigkeit“ (S. 67ff.). Schlichtweg falsch ist auch sein Urteil, dass die Sündenfallgeschichten in Bibel und Koran „inhaltlich deckungsgleich“ (S. 63) seien. Daher überwiegt trotz mancher gelungenen Einsicht des Autors im Ganzen doch ein ambivalentes Urteil über diese „Entdeckungsreise“ in den Islam.