Christlich-islamischer Dialog
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Der Islam in der Krise

Michael Blume: Islam in der Krise. Eine Weltreligion zwischen Radikalisierung und stillem Rückzug, Patmos-Verlag, Ostfildern 2017, ISBN 978-3-8436-0956-2, 192 Seiten, € 19,00

Rezensent: Ralf Lange-Sonntag

Der Islam hat keine gute Presse. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht über die Auswüchse islamistischer Terrorgruppen berichtet wird. Nicht wenige sogenannte Islamkritiker sehen mit der Präsenz von Muslimen in Deutschland sogleich die Gefahr einer zunehmenden Radikalisierung und Islamisierung der deutschen Gesellschaft gegeben. Dagegen setzt der evangelische Christ und Religionswissenschaftler Michael Blume seine These: Die Radikalisierung muslimischer Gruppen ist nicht die Hauptgefahr, sondern nur ein Indiz für eine Krise, in der sich der Islam in Deutschland und weltweit befindet. Es ist die Stärke Blumes, diese These nicht nur überzeugend argumentativ zu belegen, sondern dies in relativer Kürze und in gut lesbarem Stil zu tun. Etwa 150 Seiten reichen dem Religionswissenschaftler, um schlüssig die Krise des Islam darzustellen. Die übrigen 40 Seiten sind ein gut durchdachtes Glossar und eine Selbstdarstellung, die das fachliche und persönliche Interesse des Autors am Thema aufzeigt.
Schon im ersten Kapitel überrascht der Autor, indem er die oft genannten Zahlen für die muslimische Präsenz in Deutschland hinterfragt. Die u.a. vom Bundesamt für Migration und Flüchtlingsfragen als muslimische Bevölkerung veranschlagten 5,4-5,7% der Gesamtbevölkerung in Deutschland sind nach Blume viel zu hoch angesetzt. Lege man nämlich die reinen Mitgliedszahlen der muslimischen Verbände an, reduziere sich die Anzahl der Musliminnen und Muslime auf ein Fünftel des genannten Wertes. Zusätzlich komme erschwerend hinzu, dass es in den mehrheitlich muslimischen Ländern im Nahen und Mittleren Osten keine Religionsfreiheit in dem Sinne gebe, dass man aus der Religion des Islam austreten könne. Daher reagierten viele Menschen in diesen Ländern, aber auch in Deutschland mit einem stillen Rückzug, so dass der Islam in vielen Fällen nur noch eine „Lippenbekenntnisreligion“ sei (S.29). Blumes Fazit: „Tatsächlich verdecken also die offiziellen Statistiken, die ‚geborene‘ Muslime mit beitragszahlenden Kirchenmitgliedern vergleichen, den massiven Glaubens- und vor allem religiösen Praxisverlust in der islamischen Welt.“ (S.33)
Indiz der Krise ist neben Radikalisierung einerseits und stillem Rückzug andererseits auch die Erstarrung des Islams in seinen Traditionen. Blume macht im zweiten Kapitel seines Buches als Ursache für den mangelnden Fortschritt in erster Linie das 1485 erlassene Verbot des Buchdrucks im osmanischen Reich aus. Auch heute noch werde das Lesen in den arabischen Staaten unterdurchschnittlich praktiziert. Der württembergische Religionswissenschaftler zitiert hier den eher konservativen tunesischen Prediger Abdelfattah Mourou, wenn er darauf hinweist, dass ein Araber im Durchschnitt nur 0,79 Bücher pro Jahr lese (S.48). Das Verbot des Buchdrucks zeige sich also auch noch Jahrhunderte später als Lese- und Bildungskrise im islamischen Raum.
Einen weiteren Faktor für die fehlende Entwicklung macht der Autor in seinem dritten Kapitel geltend, in dem es darum geht, „warum in der islamischen Welt so selten Demokratien gelingen“ (S.79). Als Leiter des Referats „Nichtchristliche Religionen, Werte, Minderheiten und Projekte Nordirak“ im Staatsministerium Baden-Württemberg erfährt Blume bei seinen eigenen Reisen in den Mittleren Osten, wie der „Fluch des Öls“ die demokratische Entwicklung verhindert. Der Ölreichtum erkauft sich Zustimmung nicht über Wahlen, sondern über finanzielle Vorteile: Geld wird einfach von oben nach unten verteilt bzw. bei Missfallen zurückgehalten.
Nach Blumes Theorie kommt es jedoch noch schlimmer: Statt die Ursachen der desolaten Lage des Islam und die eigene Machtlosigkeit anzuerkennen, nehmen viele Musliminnen und Muslime ihre Zuflucht zu Verschwörungsmythen (Kapitel 4). Nach ihrer Meinung sind nicht die Musliminnen und Muslime selbst an der Erstarrung und der Krise des Islam schuld, sondern wechselnd der Westen, abtrünnige Muslime, Freimaurer, Wissenschaftler usw. Theologisch bedeute der Glaube an Verschwörungstheorien jedoch eine Krise des Monotheismus, weil man eine Gegenkraft zu dem einen Gott konstruiere, die anscheinend mächtiger als dieser sei (S.111).
Dem Wahn der Verschwörungsmythen unterliegen nach Blume jedoch auch in Deutschland viele Menschen: So halte sich immer noch der empirisch widerlegbare Glaube an einen „Geburtendschihad“ (S.123), d.h. der Mythos einer muslimischen Eroberung Europas durch eine Überzahl an Geburten muslimischer Kinder. Statt empirische Fakten anzuerkennen, tappe man so in eine „Traditionalismusfalle“, wie Blume im fünften Kapitel seines Buches skizziert.
Der Religions- und Politikwissenschaftler Blume ist schonungslos in seiner Analyse. Aber er polemisiert nicht gegen den Islam. Als ehemaliger Vorsitzender der Christlich-Islamischen Gesellschaft Stuttgart und durch seine Ehe mit einer Muslimin hat er vielfältige, und eben auch positive Erfahrungen mit dem Islam. Er versteht sein Buch daher nicht als Abrechnung mit dem Islam, sondern als Weckruf an Muslime und Nichtmuslime: Eine bessere Zukunft des Islam ist möglich, wenn die derzeitige Krise realistisch wahrgenommen wird. Mit seinen eigenen Worten: „Lebendige Religionen sind nicht starr – und es liegt an uns selbst, was wir aus ihnen machen.“ (S.180)
Einen kleinen Schönheitsfehler gibt es dennoch: Blume liegt falsch, wenn er Ali, den Schwiegersohn Mohammeds, als dritten Kalifen bezeichnet (S.22). Er ist nach Abu Bakr, Umar und Uthman der vierte Kalif.