Christlich-islamischer Dialog
Hinweise zu Neuveröffentlichungen

Barmherzigkeit als Kanon im Kanon des Koran

Mouhanad Khorchide: „Islam ist Barmherzigkeit. Grundzüge einer modernen Religion“, Herder Verlag, Freiburg 2012, ISBN 978-3-451-30572-6, 220 Seiten, € 18,90
Ders.: „Scharia – der missverstandene Gott. Der Weg zu einer modernen islamischen Ethik“, Herder Verlag, Freiburg 2013 (²2014), ISBN 978-3-451-30911-3, 232 Seiten, € 18,99


Rezensent: Ralf Lange-Sonntag

Mouhanad Khorchide ist schon jetzt, vier Jahre nach seiner Berufung zum Professor für Islamische Religionspädagogik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, der meistdiskutierte islamische Gelehrte in Deutschland. Den einen gilt er als der Hoffnungsträger eines modern geprägten deutschen Islams, die anderen lehnen ihn als nicht vereinbar mit dem islamischen Glauben ab. Diese Diskrepanz der Meinungen lässt sich aufgrund der beiden vorliegenden, kurz hintereinander veröffentlichten Bücher nachvollziehen.


„Islam ist Barmherzigkeit“ und „Scharia – der missverstandene Gott“ lassen sich als ein
Grundsatzprogramm für die Aufgaben einer modernen Theologie in Deutschland verstehen, wie sie das Zentrum für Islamische Theologie in Münster entwickeln möchte. Dabei behandelt der erste Band vor allem das Gottesbild und die Auslegung des Korans, während der zweite Band den Bereich der Scharia, der islamischen Normenlehre, ins Zentrum rückt. Mit Begriffen aus der christlichen Theologie könnte man auch sagen: Im ersten Band geht es um die Dogmatik, im zweiten um die Ethik. Neben konkreten Bezügen aufeinander ist es jedoch in erster Linie der Grundansatz, der beide Werke miteinander verbindet. Der Autor beschreibt selbst beide Bücher als „Teil eines größeren Projektes“, das als Ziel die „Etablierung eines islamischen Diskurses“ anstrebt, „in dem Gott und Mensch als Kooperationspartner Seite an Seite stehen“ (Scharia, S.21). Diese „dialogische Theologie“ sieht „die Beziehung Gott-Mensch nicht als Gehorsamkeitsbeziehung, sondern als dialogische, ja als Liebesbeziehung“ (Scharia, S.193). Daher kritisiert der Münsteraner Religionspädagoge mit aller Härte die „Theologie des Gehorsams und der Angst“ (Barmherzigkeit, S.27), die der Mehrheitsislam etabliert hat. Er plädiert stattdessen für ein Gottesbild, das durch Barmherzigkeit, Liebe und Wertschätzung geprägt ist.


Diese Grundentscheidung hat fundamentale Konsequenzen für die Koranexegese und die Scharia. Khorchide votiert für eine „humanistische Koranhermeneutik“, die „die Erfüllung menschlicher Interessen, die zugleich Bedingung und Ausdruck wirksamer Liebe und Barmherzigkeit ist, zum Hauptkriterium der Koranauslegung“ erhebt (S. 170). Man könnte also – in christlicher Begrifflichkeit – von einem Kanon in Kanon sprechen, den Khorchide ansetzt, um die Widersprüchlichkeit und Anstößigkeit mancher Koranverse zu relativieren. Dabei vermeidet Khorchide den Terminus „historisch-kritische Exegese“ und spricht vielmehr von „historischer Kontextualisierung“ der koranischen Texte. Damit ist gemeint, die Zeitumstände der Offenbarung des Korans zu berücksichtigen und damit den Wesenskern koranischer Aussagen von deren zeitbedingter Ausformung zu unterscheiden, um „die eigentlichen Aussagen hinter den Buchstaben zu entdecken und sie Wirklichkeit werden zu lassen“ (Barmherzigkeit, S. 146). Implizit greift Khorchide dabei die Ansätze der Ankaraner Schule, des pakistanisch-amerikanischen Gelehrten Fazlur Rahman und des sudanesischen Islamgelehrten Mahmud Taha auf.


Bezogen auf die Scharia, die Khorchide mit Bezug auf Matthias Rohe mit „Islamischer Normenlehre“ und nicht mit „Islamischem Recht“ übersetzt (Scharia, S.80f.), wendet sich der Religionspädagoge gegen eine Verrechtlichung des Islams, die den Äußerlichkeiten Vorrang vor den zugrundeliegenden Werten einräumt. Vielmehr setzt er am Wortsinn des Begriffs Scharia an. Damit ist der Weg zur Quelle gemeint, im religiösen Sinne: der Weg zu Gott. Dieser ist ein „Weg des Herzens“, denn „das Praktizieren des Islams beginnt mit dem Praktizieren des Herzens“ (Scharia, S.18). Dabei beruft sich Khorchide auf Traditionen im Islam, die bei der Lebenswirklichkeit des Menschen einsetzen und nach dem Zweck der islamischen Normen fragen. Dieser liegt zum einen individuell in der „Läuterung des Herzens“ und zum anderen kollektiv in der Errichtung einer gerechten Gesellschaftsordnung (Scharia, S.7ff.). Was das bedeutet, sei aber kontextabhängig, so dass jede Epoche einer Aktualisierung der Scharia bedarf. Mit den Worten von Khorchide: Es bedarf einer „ständige(n) Anpassung der Maßnahmen an die jeweiligen gesellschaftlichen Bedürfnisse“ (Scharia, S.78). Letztlich muss jeder Gläubige in Eigenverantwortung seine ethischen Entscheidungen treffen, denn „man kann seine Beziehung zu Gott nicht an Dritte delegieren“ (Scharia, S.219).


Im Hinblick auf Methode und Argumentation von Khorchides Ausführungen ist bezeichnend, dass er in beiden Büchern entsprechend seiner „dialogischen Theologie“ nicht mit theologischen Überlegungen, sondern bei den eigenen Erfahrungen und der Lebenswirklichkeit der Menschen einsetzt. Er berichtet aus seiner eigenen Biographie, von dem Widerspruch zwischen einem religionspluralen Klima im Libanon und dem dogmatischen Islam in Saudi-Arabien. Er zitiert Muslime, die aus Angst vor Gott keine eigenen Entscheidungen treffen können, und er verweist auf die Diskrepanz, dass islamische Juristen sich mehr Gedanken um einen roten Lippenstift machen als um die Verwirklichung zentraler Werte wie Gerechtigkeit und Freiheit. Dabei argumentiert Khorchide trotz seiner für die Mehrheit der muslimischen Verbände inakzeptablen Forderungen ganz traditionell vor allem mit dem Koran und der Sunna, den Überlieferungen des Propheten Mohammed. Man mag ihm sogar vorwerfen, dass er Koran und Sunna genauso wie seine Gegner willkürlich und aus dem Zusammenhang zitiert und die Geschichte der islamischen Theologie mit ihren differenzierten Positionen nicht gebührend einbezieht. Dies mag rein taktischer Natur sein, denn die Spitze seiner Argumentationsmethode liegt darin, dass er diejenigen Traditionen aus Koran und Sunna, die traditionell den Vorrang des Islam vor den anderen Religionen beweisen sollen, selbstkritisch auf die muslimische Realität bezieht und auf diesem Hintergrund eine Reform des islamischen Denkens einfordert.


Als Religionspädagoge überträgt Khorchide seine Forderungen auch auf Fragen der Bildung und Erziehung. Er wehrt sich gegen die „schwarze Pädagogik“ (Barmherzigkeit, S.40), die im orthodoxen Islam gang und gäbe sei. Ebenso lehnt er eine Pädagogik ab, der es nur um die Vermittlung religiöser Glaubensinhalte und Riten gehe. Stattdessen stehen Aneignungsprozesse im Zentrum, die Heranwachsende „befähigen, ihr Leben in religiöser Hinsicht selbst zu entwerfen und diesen Lebensentwurf selbst zu verantworten“ (Scharia, S.193). Islamische Religionspädagogik hat – so ließe sich folgern – demnach Anteil am übergreifenden Projekt einer „Erziehung zur Mündigkeit“, wie sie Adorno einst forderte.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass es Khorchide trotz methodischer Schwächen gelingt, eine islamische Theologie zu konzipieren, die realisieren kann, was er in Aufnahme des Frankfurter Theologen Ömer Öszoy von der historischen Kontextualisierung so beschreibt: Sie „hebt das Dilemma von ‚anti-koranischer Modernisierung‘ und ‚anti-moderner Korantreue‘ auf“ (Barmherzigkeit, S. 148). Christliche Leserinnen und Leser sollten jedoch zögern, diesen Islam, der es vermag, an die moderne Gesellschaft und Wissenschaft, an Menschenrechte und ethischen Diskurs anzuknüpfen, für den „wahren“ Islam zu halten. Ein solches Urteil zu fällen, steht keinem Außenstehenden zu. Es ist aber schon eine gutes Ergebnis zu wissen, dass es einen anderen Islam jenseits von Orthodoxie und Fundamentalismus gibt.

(zuerst erschienen in Religion 5-10, 19/2015, S.34f.)